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Newsletter: 02/2018 Gedanken aus dem Monat der Un-stille



GEDANKEN AUS DEM MONAT DER UN-STILLE

weisser schneestaub wirbelt im mondlicht durch die nacht. ich fahre , nein rase viel zu schnell über die schneebedeckten und vereisten pisten des pine ridge reservates. mein inneres rennt , weiss nicht wohin , die distanz zwischen kopf und herz , der längste und schwierigste weg im leben. mein ziel zurück nach hause in die black hills auf der suche nach geborgenheit.

„charly pray for me“, bete für mich hat er gesagt. mein blick huscht auf den beifahrersitz , da liegt ein bündel , generationen alt. ein medizinbündel genauer gesagt. meine gedanken streifen durch die geschichte dieser menschen , dieses landes. ich fokussiere mich auf die strasse , kein licht soweit ich schaue , nur meine scheinwerfer im glitzern der millionen sterne , welche bei eisiger kälte funkeln. mein tachometer steht bei 110 meilen/170 kmh , wehe mir , es wäre mein ende und doch , ich habe keine verantwortung über niemanden als mich selbst. freiheit…?

es war anfänglich ein sonniger , ruhiger tag. ein guter tag vor meiner rückreise in die alte schweiz , lakota freunde zu besuchen , welche im ostteil des reservates zuhause sind. eigentlich das gebiet wo ich seit jeher mich am meisten wohl und hingezogen fühle. dieses gebiet erstreckt sich vom wounded knee distrikt , über Kyle nach Allen und dem ganzen bad lands hinterland. ich denke etwa so gross wie die halbe ostschweiz. in diesem zusammenhang zu erwähnen , dass hier der hauptsächlich materiell arme teil des reservates liegt. dies hat historische wurzeln. in diesem teil des landes liessen sich die stammesangehörigen von chief crazy horse nieder , welche bis in die 1870er jahre militärischen wiederstand gegenüber den euroamerikanern geleistet haben. die chief red cloud angehörigen indessen haben sich auch verständlicherweise früh ergeben und somit all die politischen und wirtschaftlichen ämter eingenommen. diese bananenrepublik floriert auch heute noch , im gegensatz zu den traditionellen werten und so werden die millionen dollars aus washington auch dementsprechend eingesetzt. in den vergangenen 25 jahren oder so habe ich viele freundschaften und bekanntschaften geschlossen mit crazy horse clan nachfahren , aufgrund ihrem wissen , künstlerischem talent und einfach weil es so geschah. wann immer ich kann im winter lade ich meinen jeep voll mit lebensmitteln und unterstützungsgeld vom chanku luta fonds , welches menschen wie ihr selbst ermöglichen , und mache auf meine eigene kleine weise eine grosse tour. diese führt in die letzten winkel des ostteils um es an bedürftige , bekannte und freunde zu verteilen. nein , keine medizinleute , pferde- oder bisonrancher , nein , keine erfolgreichen künstler oder vertreter ihrer kultur , sondern einfach „nur“ menschen die ihre sprache noch sprechen , ihre spiritualität im herzen tragen und das leben aushalten bis es vorbei ist. diese menschen haben keine träume und visionen mehr , sondern nur noch die aufgabe zu überleben , weil das leben trotz allem ein geschenk ist von wo-wakan , dem grossen geheimnis welches hinter den sternen liegt. die missionare haben diesen menschen aufgezwungen , dass es nur einen lieben gott gibt der mit einem langen bart über alles in güte wacht. von diesem entstand der begriff , welchen man heute hauptsächlich verwendet als wakan tanka , ein synonym für gott. aber es gibt keinen lieben gott , sondern „nur“ wo-wakan eine kraft und energie aus dem universum , welches leben schafft und leben nimmt. wo ist der liebe gott bei den kriegsgeschundenen kindern in syrien , bei den hungernden auf dieser welt oder schlicht bei einem 48-jährigen freund der an krebs stirbt. kein grund zu resignieren oder wütend zu sein , es ist einfach so , aber wir können wo-lakota frieden machen damit.

ich sitze im haus eines freundes im ghetto von der gemeinde Allen. tiefste dritte welt , kein sinn für hygiene , ein riesen durcheinander , das haus eher eine hütte , aber es ist warm und die kinder lachen. nein , diese kinder gehen nicht ins ballett oder in die klavierstunde , keine babymassagen oder computerspielchen. ich schaue sie an und denke , wau , sie haben kaum eine chance , es hat wenig platz in diesem housing/ghetto wo meth-drogen , gewalt und alkoholismus alles dominiert. ich habe kein interesse euch mit diesem brief zu deprimieren aber das ist auch eine lakota oder indigene realität. wo sind die traditionellen medizinmänner/frauen und spirituellen führer. einige wenige sind hier , aber die meisten an der westküste oder in europa um den lebenssinnsuchenden westlern eine richtung zu geben. es gibt auch jene die hier in den reservaten leben aber sie sind hauptsächlich nur motiviert wenn es junge hübsche lakota frauen und europäische besucherinnen gibt die man „therapieren“ kann mit ihren ängsten und problemen.

Ja , ich bin nicht nur traurig , ich bin auch wütend , trotz allem fahre ich mittlerweile wieder 80 meilen schnell , etwas sicherer aber immer noch viel zu schnell. ich versuche mich abzulenken und schalte das radio ein ; die south dakota nachrichten. schlagzeile : das parlament hat heute beschlossen , die lehrer in diesem staat können/müssen sich nach dem letzten massaker in florida bewaffnen. lehrer mit waffen , was für eine kranke welt in der wir leben. ich fahre mittlerweile wieder 110 meilen schnell , greife in mein handschuhfach , nehme meine 9mm pistole heraus und schmeisse sie in meiner wut aus dem fenster. fast alle us-bürger haben hier eine waffe im auto , das ist legal. ich denke kurz nach , ach was habe ich jetzt wieder gemacht , spontanreaktion , muss der italiani in mir sein , aber was solls , habe ja noch zwei revolver zuhause… nein mit allem respekt , ich bin definitiv nicht gemacht am morgen auf den 7 uhr pendlerzug/verkehr zu gehen. dafür lebe ich eine geschichte die auch nicht einfach ist.

ich halte inne , stoppe meinen wagen , steige aus , einfach nur stille und das glitzern der sterne. so war ich bei einem weiteren lakota freund heute , habe essen und etwas geld gebracht , weil ich weiss wie sehr er seine kultur und familie liebt. wir reden und sind manchmal einfach nur still. in der ecke seines hauses steht sein altar. adlerfedern , tabakflaggen , fotos seiner vorfahren. „charly“ sagt er, „wir sind familie“ er pausiert, „weisst du wer die grössten feinde der lakota sind“? ich schweige , er sagt: „die lakota sind ihre eigenen grössten feinde. alles was wir einst nicht waren sind wir heute. in ein paar stunden wird die polizei mich holen kommen für etwas was ich nicht gemacht habe , aus verleumdung , eifersucht , neid und wut“. ich antworte , „ich weiss ich kenne das“. er schreitet zu seinem altar und bringt mir den medizinbeutel seiner familie , über generationen versteckt vor den missionaren und der indianerpolizei , als das alles noch bis 1978 verboten war. „mach mir einen gefallen charly , nimm es mit in unser herz von allem was ist , in die black hills. ich kann das nicht ins gefängnis mitnehmen und wenn ich nicht mehr da im haus bin wird es jemand stehlen kommen. bewahre es für mich auf“. ich halte achtung aber ich muss gehen , umarme ihn und entgleite in die nacht nach westen. da bin ich nun , halte inne , sitze auf meiner kühlerhaube und weine vor mich hin. ja , das sind keine tunkashila , sonnentanz und pfeifenlieder / geschichten welche man sehen und hören will ; das ist wo-wakan , die realität des lebens hier draussen wo es keine farben mehr gibt. oft höre ich von leuten , dass meine newsletters so persönlich sind und ich mich dabei nicht  verletzlich mache? oh nein sage ich , ich habe im verlaufe der vergangenen 20 jahre hunderte von reisenden aus der schweiz , deutschland und österreich durch dieses lakota land geführt und begleitet. die trittbrettfahrer , profiteure und energieparasiten gleiten an mir ab und sind für mich keine herausforderung mehr. es ist mir eine ehre und ein glück , feine reisende menschen weiterhin durch dieses sakrale , historische land zu führen. zusammen mit lakota freunden , welche die schönsten farben dieser alten kultur in und um sich tragen und diese teilen möchten.

im vergangenen herbst bin ich durch eine zeremonie gegangen ,welche man fast nicht mehr kennt und ausübt. diese zeremonie heisst chekpa-ignaka / das eins werden mit seinem zwilling , dem anderen sein von sich selbst. die christen z.b. nennen diesen zwilling ihren schutzengel. dieses eins-sein beinhaltet , man hat vor nichts mehr angst , eine spezielle erfahrung und ein neues bewusstsein für mich , sogar meine angst vor der liebe , bzw. vom verlust der liebe hat ihre grenzen bekommen. dieser newsletter wird der letzte sein mit meinem namen von wo-lakota-to-cho. chekpa-ignaka birgt einen neuen namen…

ich nehme das bündel vom beifahrersitz und presse es an mein herz. ein bild erscheint mir , es ist mein beliebtester greenpeace kapitän Jon Castle , unter welchem ich 1989 und 1990 als junger mann zur see gefahren bin. wir waren in einem schweren sturm im nordatlantik , kategorie 8 von 10 , mir war so elend und ich zitterte vor angst , aber ich war mann genug immer meine arbeit zu machen. ich hatte steuerwache und sah nur noch wasser kein schiff mehr. John kam auf die brücke und lächelte mich an. er sagte: „wenn es zeit ist ist es zeit , aber es kommt schon gut“. wo-wakan hat ihn vor einem monat nach hause genommen , viel zu früh , aber es war seine zeit – lakota zeit. nein , das leben ist nicht fair , aber ein riesen geschenk und was wir daraus machen soll ein geschenk an das leben zurück sein. ich steige wieder ein und fahre mit 55 meilen nach hause ; hetchetuelo / nichts  und alles ist gut.

danke für eure zeit , good night and good luck

charly juchler / wo-lakota-to-cho


p.s.:  ich freue mich auf die chante etan workshops zusammen mit Vance Blacksmith. lakota spiritueller berater für sein volk und für alle die er berührt.
zur erinnerung:  --> öffentlicher vortrag am freitag, 9. märz in winterthur

Jon Castle / dezember 1950 bis januar 2018

♪♪ S O N G ♪♪

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